25, April, 2024
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Zeitzeugengespräch mit Salomon Perel

 

Zeitzeugen sind die besten Geschichtenerzähler

Steven Spielberg

Mit Stevens Spielbergs Zitat beginnt Salomon Perel, auch als Sally Perel oder der Hitlerjunge Salomon bekannt, das Zeitzeugen-Gespräch der Klasse 9.4 am 26. Januar 2022. In dem anderthalb-stündigen Vortrag mit der anschließenden und ausgiebig genutzten Möglichkeit, Fragen zu stellen, erzählt Sally Perel Anekdoten seines Lebens: als Jugendlicher in

Die Tatsache, dass ihr auch bereit seit, eine eine Geschichte zu hören, ist für mich ein Beweis, dass ihr euch weigert, geschichtsfrei zu leben.

– Salomon Perel

Braunschweig in der HJ-Akademie, als Dolmetscher in der Wehrmacht sowie der Balanceakts des Lügens, von den traumatischen Erlebnissen in Auschwitz, der Suche nach seinen Eltern, die Wiedervereinigung mit seinem Bruder Jahrzehnte später, als auch die seelischen Spuren, welche bis heute bleiben und tiefe Spaltungen und Konflikte in seinem Geist hinterließen. Vor allem aber betonte der Zeitzeuge die Relevanz des kritischen selbstständigen Denkens, welche den Massen damals gefehlt hätte aber auch heute mangelhaft vorhanden sei, so Perel. Die HJ-Akademie seien vier lange beängstigende und unsichere Jahre gewesen, bei denen Herr Perel auch über 80 Jahre später von vier Ewigkeiten spricht und in welchen er in seiner Erinnerung als kleiner, ängstlicher, hoffender, jüdischer Junge unter dem Mantel des Feindes gelebt hatte. Doch wie kam er als Jude in eine HJ-Akademie? Dies geschah als er infolge der Zerstörung des Geschäftes seiner Eltern im niedersächsischen Peine, seine Heimat 1939, für Polen verließ, nur um dort nach einigen Monaten zu erfahren, dass er ohne seine Eltern mit seinem älterem Bruder David Richtung Osten fliehen muss, da es zu gefährlich für das jüdische Volk wurde und seinen Eltern das Ghetto in Lódz drohte. Er flüchtete Anfang des 2. Weltkriegs nach Minsk, im heutigen Belarus. Dies sei traumatisch und schrecklich, gar höllenähnlich gewesen, denn er habe nur ein Wort dafür: Inferno. Bereits hier begannen die traumatischen Erlebnisse, die ihn bis heute prägen und hier begann die Spaltung seiner Seele, die bis heute andauert, wie er uns erzählt. Doch vor seiner Ankunft in Minsk musste er sich einer rassischen Kontrolle unterziehen und war gezwungen vor dem Offizier im Getöse der Flugzeuge zu entscheiden: Leben oder Tod. Er entschied sich für die Worte seiner Mutter: “Sally, du sollst leben!”, entgegen die Worte seines Vaters: “Sali, unter jeden Umstand, darfst du nicht nachkommen. Bleibe Jude. Bleibe bei Gott und er wird dich immer beschützen”. 

In den Sekunden der Entscheidung über Leben und Tod herrschte in seinem Kopf totales Chaos, wie er uns heute erzählt. Doch der Lärm gab ihm wichtige Sekunden, in denen er entschied, Josef Perjell zu heißen, nicht

In diesem Sekunden, in meinem Kopf herrschte totales Chaos. Meine Gedanken rasten […] du sollst leben. Die Angst führte eine wunderbare Stimme, die gar keinen Zweifel hinterließ: Ich bin Volksdeutscher, ich bin kein Jude.

– Sally Perel

Salomon Perel, wie er dem Offizier zuerst geantwortet hatte, was aber im Lärm unterging. So antwortete er mit fester Stimme und mit einer Sicherheit und Überzeugung, von der er heute nicht weiß, woher er sie hatte, der Frage des Offiziers: “Josef Perjell. Ich bin Volksdeutscher. Ich bin kein Jude”. Der Offizier akzeptierte das und kontrollierte diese Aussage nicht, womit er Salomon wohl das das Leben rettete. Doch die folgenden Jahre in der Akademie wurden von der ständigen Angst und Verzweiflung, entdeckt und hingerichtet zu werden, überschattet. Obwohl es doch auch schöne Momente seines Lebens waren, durfte er mit seinen Lügen kein Mistrauen erwecken und musste sich ständig trotz seiner schrecklichen Vorstellungen des Entdeckens und Vollstreckens seinen Mut geben. Aber in solchen Momenten tiefster Verzweiflung, so Perel, habe er nie aufgegeben, nie die Hoffnung verloren, er habe auch nie an Selbstmord gedacht. „Denn sie würden mich nicht entdecken, sollten sie dies tun, vertröstete ich mich, indem ich mir sage, dass sie mich nicht hinrichten würden“, erzählt Perel in unserem Gespräch. Diese Hoffnung und dieser Optimismus trotz der permanent hohen Gefahr des Todes entsprang von diesem Gedanken: “Man will ja nicht sterben, ohne vorher gelebt zu haben”. Während der ständigen Umgebung mit den nationalsozialistischen Ideen in der HJ-Akademie Braunschweig begann Perel diese Ideen zu unterstützen und sich sogar damit zu identifizieren, die Ideologie später sogar lehrte, wie er zugab. Er stellte auch fest, dass es schöne Momente gab, wie die sportlichen und gemeinschaftlichen Aktivitäten sowie, dass er nette Menschen kennenlernte. In der HJ Zeit begann sein seelischer Konflikt durch seine Identifizierung mit dem NS, weshalb er teils vergaß, dass er nicht Josef Perjell sondern Salomon Perel hieß, dass er eigentlich Jude war und dass er seiner selbst eigentlich hassen müsste, da er sich mit der NS-Ideologie identifizierte. Doch letzteres geschah nicht. Er erkannte allerdings, dass sich unter den prächtigen, schwarzen Uniformen mit den Hakenkreuzen normale Menschen mit Familie, Haustieren und Verwandten befanden, welche jedoch zu unsäglichen Verbrechen fähig waren, welche aus der Zugehörigkeit zu einer Masse resultieren würden. Denn „in der Masse gäbe es kein kritisches und selbstständiges Denken mehr“, wie er anmerkt. Durch den künstlichen Feind, den Juden, sei das Volk zum Krieg aufgehetzt worden. Diese seien vielfach im KZ-Auschwitz ermordet worden, was er mit eigenen Augen sah, weshalb er die Schreie der zu Asche verbrannten Kinder immer noch höre. Sie seien mit dem Alter immer deutlicher zu hören. Es lässt ihn heute schließen: “Auschwitz ist die Todesfabrik der Nazis. Dieser Schandfleck der deutschen Geschichte wurde zum Symbol der schlimmsten Tragödie der Menschheit. Wir werden Auschwitz nie loswerden, […] Auschwitz kann man nicht wie Staub vom Mantel abschütteln, es ist zu tief im Gewebe. Wenn jemand sich vorstellen möchte, was [Apokalypse] bedeutet, was [Weltuntergang] bedeutet, [der] soll sich Auschwitz vor Augen halten.” Während der Akademie-Zeit und des Krieges erlebte er weitere traumatische Erlebnisse, wie die tägliche Fahrt in einer Straßenbahn, welche mit Stacheldraht umzäunt war, durch das Ghetto in Lódz. Er hätte einmal vermeintlich seine Mutter gesehen, jedoch ist das ungewiss, schildert er. Doch was hätte er tun können, ohne die Worte seiner Eltern zu brechen und sich zu verraten? Nach Kriegsende und der Akademiezeit wollte er nach Lódz fahren, um seine Eltern zu suchen, doch es war schon in den Händen der Sowjetunion. Ihm wurde angeboten, als Dolmetscher in einer sowjetischen Besatzungsbehörde in der Roten Armee zu arbeiten, was er annahm, in der Hoffnung nach Lódz zu gelangen.

Wenn jemand sich vorstellen möchte, was [Apokalypse] bedeutet, was [Weltuntergang] bedeutet, [der] soll sich Auschwitz vor Augen halten

Sally Perel

Erst etwas später erfuhr er von Überlebenden aus Lódz, dass seine Eltern beide in dem Ghetto umgekommen waren. Nachdem er sich entschied, den Posten als Dolmetscher zu verlassen, erfuhr er, dass seine Brüder David und Isaac beide noch leben, sodass er Isaac und seine Frau Mira besuchte, wo er erfährt, dass seine Eltern zu dem Zeitpunkt, als er durch das Ghetto fuhr, noch lebten. Dies rief erneut tiefe Gewissenskonflikte in ihm auf, denn er hatte seine Mutter vermutlich gesehen, aber nichts getan. Trotz der Verzweiflung und Trauer über die Tatsache, dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte, seine Eltern möglicherweise ein letztes Mal zu sehen, sagt Perel uns heute, dass es „die richtige Entscheidung“ war, da er noch lebe. Es war auch richtig, trotz der sich dadurch vertiefenden Spaltung, sich seinen Eltern nicht im Ghetto zu kenntlich machten. Heute kann er sagen, dass die Sozialisierung in der HJ zwei Persönlichkeiten in ihm geformt hat.

Lügen ist manchmal eine sehr effektive Waffe. Eigentlich ist Lügen unmoralisch aber wenn dein Leben in Gefahr ist [und] wenn die Wahrheit dich töten will: Lüge!

Salomon Perel

Eine, die von den Ideen des Nationalsozialismus überzeugt ist. Die Andere ist sich seiner ursprünglichen Identität bewusst und hält die nationalsozialistischen Ideen für abwegig und falsch, klärt deswegen über diese Zeit auf. Beide Persönlichkeiten, seine zwei Teile der Seele, so Perel, stünden permanent im Konflikt miteinander. Doch damit so etwas nicht der heutigen Jugend geschieht, dürfe diese sich nicht schuldig machen. Denn sie sei keineswegs am Geschehen während der Nationalsozialismus schuldig, könne sich aber schuldig machen. Damit dies nicht passiert, solle die Jugend kritisch denken und alles hinter fragen und nicht den falschen Ideen verfallen, appelliert Perel. Doch so etwas passiere wieder und er hätte mit uns gesprochen, um “euren Verstand mit der vollen Wahrheit zu beleuchten […] und ich beauftrage euch, nicht der neuen Propaganda zu verfallen“.

Fragen und Antworten

Anschließend gab es eine Möglichkeit, Fragen zu stellen, welche hier mit den Antworten aufgeführt werden. Wir möchten uns bei Herrn Perel bedanken, der uns die einzigartige Möglichkeit gab mit einem Zeitzeugen zu sprechen, sowie bei Frau Spiegelhalter wegen der Organisation über dem Kinderring als auch den Moderatoren Sofia Sanfillippo, Anouche Siodlaczek und Greta Gerson. 

Hätten Sie mit ihrem Wissen auf der Flucht anders gehandelt? Die Tatsache, dass ich überlebte ist der Beweis, dass ich alles richtig getan habe. Ich glaube ich aber, ich habe alles richtig gehandelt, aber ich lebte natürlich in einer Lüge. Aber wie ich vorher schon sagte, um Leben zu retten darf man lügen. Ich bereue auch nichts. Ich habe alles richtig getan, weil ich überlebt habe. Das war mein persönlicher Kampf gegen die Nazi-Vernichtungs-Maschinerie.

Wie definieren Sie sich heute? Ich bin ein freidenkender Israeli. Israel sehe ich als mein neues Vaterland und Deutschland als mein Mutterland. Wenn ich schon auch bei dieser Gelegenheit meine politische Ansicht erzählen darf, in Israel bin ich Mitglied der Friedensbewegung für eine gerechte Lösung des blutigen Palästinenserkonfliktes, denn nur eine gerechte Lösung ist eine dauerhafte. Und was ist nun die echte dauerhafte Lösung? Israel muss auf ihre Besatzungsideologie verzichten, alle Siedlungen, also alle besetzten Gebiete räumen und erlauben einen selbständigen Palästinenserstaates mit der Hauptstadt Ostjerusalem entstehen zu lassen, nur diese Lösung wird uns zum echten Frieden bringen, alles andere, was unsere Regierung unternehmen, ist Kosmetik.

Sie haben ja erzählt, dass Sie sich mit dem NS identifiziert haben. Inwiefern und wieso? Denken Sie heute noch genau so? Ja ich lebe weiterhin ein Doppelleben. Ich bin dauerhaft in einem Dialog oder Streit, je nachdem, mit Jupp. Manchmal hat er die Oberhand aber meistens der heutige Israeli in mir. Aber er ist noch lebhaft in mir vorhanden, so wie ich sagte, ich führe weiterhin ein Doppelleben. Ich bin nicht derselbe Sally welcher er war als ich meine Eltern verlassen musste. 

Wie fühlten Sie sich als Jude in der HJ ausgebildet zu werden?Ich fühlte mich nicht wohl, aber gewisse Verteidigungsmechanismen haben mich dazu gebracht, zu vergessen, dass ich Jude bin. Sonst hätte ich irgendeinen Fehler gemacht, nur so habe ich überlebt. Natürlich habe ich nicht auf Kosten anderer überlebt, ich habe nie jemanden erschossen. Sodass ich mit voller Moral darüber reden darf. Ich fühle mich nicht als Verräter an mein Volk. Ich schätz jeder von meinem Volk, bis auf wenige Ausnahmen, ist bereit mir mit Verständnis entgegenzukommen. 

Was war das Erste, was Sie machen wollten, nachdem Sie frei waren? Ich wollte nach Lódz fahren, um zu erfahren, ob meine Eltern überlebt haben. Aber damals ging es nicht, das war schon in russischen Händen, dann wurde mir angeboten Dolmetscher bei der russischen Besatzungsbehörde zu sein. Klar habe ich zugestimmt. So wurde ich Dolmetscher bei der Roten Armee. Aber ich habe erfahren, wie meine Eltern umgekommen sind, von Menschen, die das Ghetto Lódz überlebt haben. Mein Vater ist aus Hunger gestorben und meine Mutter wurde auf eine sehr tragische Weise getötet, als der Befehl war, das Ghetto Lódz zu liquidieren, kam aus Hamburg die Polizei mit einer Kolonne von Lastwagen, die abgedichtet sind, und die Opfer die noch im Ghetto lebten, wurden dort eingepfercht und die Abgase von dem Auto gingen nach innen, sodass die Menschen erstickten und in ein Massengrab geworfen. Ich frage mich öfters, woran meine Mutter dachte, als sie beim Ersticken war. Bestimmt hat sie auch gesagt, Sally du sollst leben. Aber das habe ich erst nach dem Krieg erfahren.

Haben Sie noch Kontakt zu Personen aus der HJ? Ja, ich hatte jahrelang gute Kontakte mit den Jungs aus der HJ. Auch mit dem Soldaten, der mich fragte, ob ich Jude sei. Sie sind schon fast alle gestorben. Ich bin glaube ich der Letzte aus der HJ. Als ich noch in Deutschland war, haben wir uns immer getroffen. Mir sagte mal einer: „Aber Jupp, wir waren doch solch gute Freunde, warum hast du mir nicht gesagt dass du Jude bist? Da hätte ich dir doch geholfen“. Ich sagte aber: „Wir waren keine Freunde, es war zwischen uns keine echt Freundschaft“. Denn was bedeutet eine echte Freundschaft? Du hast Freunde, um der Person deine geheimsten Geheimnisse zu offenbaren. Ohne Angst zu haben, was man sogar den Eltern nicht erzählt. Aber dann fragt man sich, kann ich dir wirklich die Wahrheit sagen, wo du jahrelang zusammen gegen mich aufgehetzt wurdest? Wir waren keine Freunde oder Kameraden, wir waren maximal Schicksalskameraden. Aber heute, sagte ich, könne wir Freunde werden. Würde jeder Mensch aus seinen Feinden Freunde machen, würde die Welt besser aussehen.

Haben Sie immer noch Albträume? Ja natürlich, seit damals, träume ich sehr oft davon in der Straßenbahn durch Ghetto zu fahren und will meine Mutter sehen. Dieser Traum verfolgt mich sehr oft. Aber ich hatte auch schöne Erlebnisse, die muss man auch erzählen, meine erste Jugendliebe. 

Können Sie Parallelen zwischen damals und heute erkennen? Ja, leider gibt es in der Gegenwart leider wieder Menschen, diedasselbe denken, wie damals. Jeder Mensch hat ein Recht auf seinenGlauben und er muss als solcher auch in die Gesellschaftaufgenommen werden. Mensch gleich Mensch, dass ist die beste Antwort.

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